2016 beginnt mit Dada. Diesen Januar jährt sich die Gründung vom Cabaret Voltair an der Spiegelgasse in Zürich zum 100. Mal. Im Landesmuseum öffnet eine grosse Retrospektive mit Schlüsselwerken von Dadaismus Künstlern wie Marcel Duchamp, Hugo Ball und Man Ray, die Presse ist voll von Sonderberichten und Essais und das Schweizer Fernsehen widmet der Kunstbewegung der Zwischenkriegsjahre eine Sendereihe mit dem Titel: «Big Dada».
Das ist allerdings nicht der Grund, warum ich den gleichen Titel für diesen Beitrag wähle.
Doch dazu später.
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HugoBall
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Erst neulich sass ich mit Bekannten zu Tisch. Wir plauderten über Gott und die Welt, darüber dass die Welt nicht mehr so wie früher ist und so weiter. Über Umwegen kamen wir schliesslich auf Google zu sprechen.
Während einzelne am Tisch sich den Begriff Bubble noch erklären und dabei die Vorstellung sacken lassen mussten, dass die omnipräsente Suchmaschine tatsächlich konsequent ihre Ergebnisse auf das individuelle Suchverhalten jedes einzelnen Nutzers abstimmt, berieten die Eingeweihteren unter uns über mögliche Gegen-Strategien. Das ging von Verteilen der Recherchen auf unterschiedliche Suchmaschinen über den Einsatz von Diensten, welche die IP-Adressen «anonymisieren» bis hin zu absurden Massnahmen wie dem sprunghaften Googlen von eventuell gar absurden Begriffen ausserhalb der eigenen Interessen, um ein möglichst verzerrtes Nutzer-Profil zu erzeugen.
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Einiges weiter zurück liegt der Zeitpunkt, als alle von Big Data zu sprechen begannen. Wie ausnahmslos bei allen Buzzwords bestand auch bei diesem die Tendenz, es übertrieben oft zu verwenden und es dabei sukzessiv von seinem Sinn zu befreien. Getrieben von grenzenlosem Zukunftsglauben laberten Techgeeks unentwegt von Big Data. Aufgescheucht von Edward Snowdens Enthüllungen beschwörten zugleich Überwachungsphobiker Big Data als die Monsterkrake unserer dystopischen Zukunft, wie Exorzisten den Teufel im Körper eines Besessenen.
Big Data war vorübergehend so allgegenwärtig, dass es mir schliesslich mächtig auf den Wecker ging. Also entgegnete ich bei jeder Gelegenheit, in welcher jemand den Begriff sagte, mit der immer gleichen, idiotischen Nachfrage: «Wie bitte? Big Dada?».
Was anfänglich lediglich eine kindische Reaktion gegenüber diesem Modewort war, entpuppte schnell zusätzliche unterhaltsame Ebenen. So häuften sich Berichte über Vorfälle, bei welchen Ungenauigkeiten in der Auswertung grosser Datenmengen, gepaart mit blindem Vertrauen in die Ergebnisse, zu Fehlleistungen führten, die von peinlich bis absurd gingen, und dabei keineswegs einer gewissen Komik entbehrten. Big Data als Quelle des Widersinns.
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Über die Ursprünge von Dada wird gegenwärtig viel geschrieben. Und über die Absichten auch. Experten, Kenner und Theoretiker überschlagen sich förmlich mit Analysen, Geschichten und Anekdoten.
Was alle Schilderungen gemeinsam haben, ist, dass die Protagonisten vor dem Krieg und den nationalistischen Entwicklungen in Europa in die freie und liberale Schweiz flüchteten und der Wut und Frustration über ihren Heimatverlust im Dadaismus Luft machten. Dass dies unterschiedlichste Ausdrucksformen und Werke hervorbrachte, erstaunt nur schon deswegen nicht, wenn man bedenkt, wie vielfältig die Gruppe um Hugo Ball tatsächlich war.
Dennoch zieht sich das Nonkonforme, Sinnbefreite und Absurde durch das Oeuvre von Dada wie ein roter Faden.
Dass sich viele der Werke zudem mit der Sprache befassen, kommt dabei nicht von Ungefähr. Medienschaffende, Intellektuelle und Künstler mussten miterleben, wie Polemiker und Kriegstreiber in ganz Europa die Macht der Sprache für sich entdeckten und mit Hilfe geschickter Rhetorik ihr faschistisches und verblendetes Gedankengut unter die Massen brachten.
Wie falsch die Motive der lautstarken Redner waren, blieb den Menschen verborgen. Zu emotional waren die Auftritte. Zu perfid die Wortwahl.
Wenn falsche Politiker und Parteien ganze Völker hinter sich scharten, war es schwierig, mit rationalen Argumenten dagegen anzugehen. Das einzige was blieb, war, sie der Lächerlichkeit Preis zu geben. Satire hatte Hochkonjunktur. Politisches Cabaret feierte Erfolge, während die Artisten um ihr Leben fürchten mussten.
Die im Schweizer Exil lebenden Künstler sorgten sich um ihre Freunde in ihrer Heimat. Und gründeten mit Dada eine Widerstandsgruppe der besonderen Art.
Sie klebten Collagen mit absurden Texten. Schufen eine Sprache ohne Aussage, die aber in Ausdruck und sinnloser Rhetorik den Rednerpulten der europäischen Politbühnen entliehen schienen. Und führten Stücke auf, die dem Theater den Boden unter den Füssen entzog.
Dada als Rezept gegen eine aufgezwungen Herrschaft.
Dada das Gegenkonzept zur Gedankenkontrolle durch einen totalitären Staat.
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Als ich mit meinen Bekannten über Strategien im Umgang mit Google diskutierte, wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr unsere Sorgen in gewisser Weise den Lebensumständen von vor hundert Jahren entsprachen. Irgendwie scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Wenn auch nicht auf so tragische Weise und mit so unglaublich vielen Entbehrungen verbunden, beschäftigen sich viele unter uns mit ähnlichen Themen wie vor hundert Jahren. Und kommen dabei sogar auf ähnliche Ideen.
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Dada selbst ist vor einigen Jahren aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Und wird seither regelmässig an der Spiegelgasse in Zürich zelebriert. Mit Aktionen, die merkwürdigerweise oft wie eine Mischung aus damals und heute wirken. Mit Inszenierungen, die die Botschaften von vor hundert Jahren ins Hier und Heute übertragen und dabei aktueller nicht sein könnten.
Bild: Hugo Ball | © wikicommons public domain